Zahlen und der Tod

 

Der Tod ist eine Zahl geworden. Die Zahlen der Infizierten, der Genesenen und der Toten an oder durch Covid19. Manchmal schon ins Absurde gesteigert, mit Überschriften wie „7 neue Corona Infizierte und 2 Tote in Hessen“. Nie haben an Krankheit Verstorbene in den Medien solche Aufmerksamkeit genossen, als Zahl, nicht als Mensch.

 

Medien brauchen Aufmerksamkeit, darum buhlen sie, das ist ihre Währung. Angst erzeugt gesteigerte Aufmerksamkeit. Das erklärt warum viele Medien, vor allem zu Beginn der Pandemie, so stark auf Angsteffekte gesetzt haben. Bilder aus Intensivstationen oder von Massen an Särgen und dazu eine dramatisierende Berichterstattung haben viele Menschen in extreme Alarmbereitschaft versetzt. Der Focus verengt sich auf die Wahrnehmung der Gefahr.

 

Ein Zustand der nicht allzu lange aufrechterhalten werden kann, selbst wenn die Gefahr andauert, tritt irgendwann ein gewisser Gewöhnungsprozess eine.

 

Ein sachlicher Umgang mit Zahlen und Gefühle der (Todes-) Angst passen nicht gut zusammen. Respekt vor den Toten und der Trauer mit einer Diskussionen um Zahlen ebenso wenig.

 

Als ich es versucht habe: „Ja, Corona ist eine ernstzunehmende Pandemie und es sterben viele Menschen, aber…“  wurde ich als zynisch bezeichnet.

 

Vor Corona war ich mit einer Freundin im Kino, dort lief vor dem Film die übliche Werbung und darunter ein unüblicher Clip der Welthungerhilfe. Sehr anrührend sangen dort ausgemergelte Kinder „vergesst mich nicht“ und zum Schluss der Hinweis, dass 3 Millionen Kinder jährlich an Hunger sterben. Davor Langnese, danach Toyota, und dann haben wir uns alle gemütlich den Film angeguckt. Kam mir schon pervers vor, aber letztlich habe ich es auch mitgemacht. Ohne Verdrängung geht es eben nicht. Interessanterweise hat die gleiche Freundin im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie geäußert: „Jeder einzelne Tote ist einer zu viel.“ Damals im Kino hat sie so etwas nicht gesagt.

Es sterben etwa 8 Millionen Menschen jährlich durch Hunger, anscheinend gelten sie nicht als  „Risikopatienten“.

Es ist immer traurig wenn jemand stirbt und besonders, wenn der Tod zu diesem Zeitpunkt, vermeidbar gewesen wäre. Ich verstehe trotzdem nicht woher auf einmal diese absolute Moral kommt und finde sie geht an der Realität vorbei.

 

Ist es besser wenn Menschen einsam sterben, damit andere nicht angesteckt werden können oder wenn sie Beistand haben, aber sich damit das Risiko vergrößert, dass es weitere Infektionen und Tote geben könnte? Eine Frage für die es keine richtige oder falsche Antwort gibt, sondern nur ein möglichst ausgeglichenes Abwägen. Vor allem in vielen Altenheimen muss diese Frage ganz konkret praktisch beantwortet werden.

 

Der Prüfstein für viele Maßnahmen, die Abwägung wieviel Nutzen und wieviel Schaden sie mit sich bringen, ist sicher keine leichte Aufgabe in so einer unübersichtlichen Situation.

 

Die Angst vor dem Tod ist die Urmutter aller Ängste. Das betrifft so gut wie alle Menschen, aber für viele ist es noch entscheidender wie sie sterben, qualvoll, mit Schmerzen, entspannt, im Schlaf, im Frieden mit ihrem Leben, allein oder in Begleitung.

 

Viele Menschen sind einsam gestorben und einige sind an Einsamkeit (ohne Covid19-Erkrankung) gestorben. Was auch für Angehörige die sich nicht verabschieden konnten eine starke Belastung war. Der hiesige Hospizverein hat während des ersten lockdowns digitale Sterbebegleitung angeboten, es war die einzige Möglichkeit von Kontakt und Beistand.

 

Digitale Sterbebegleitung! Wenn es mit mir zu Ende geht möchte ich nicht den Computer anschalten.

 

Ich finde es wichtig, das Leben zu leben und dem Tod dabei ins Auge zu sehen, ohne sich von Angst lähmen zu lassen oder auf Nebenschauplätzen zu kämpfen. Theoretisch, praktisch liege auch ich manchmal nachts wach aus Angst vor dem Tod, aber nicht wegen Corona, das war schon vorher so. Das Leben kann so schnell vorbei sein.

 

Diese ständige Wiederholung von den neusten Zahlen der Corona-Toten. Zahlen vermitteln eine vermeintliche Sachlichkeit.

 

Herzinfarkt, Krebs, multiresistente Keime, alles kein so großes Thema.  Obwohl daran in der BRD auch sehr viele Menschen sterben. Auf der Erde insgesamt sterben Menschen täglich an Tuberkulose, Aids, Malaria und Hunger. Jährlich sind es etwa 8 Millionen Menschen die an Hunger sterben. Wie oft ist das eine Schlagzeile wert? Zahlen sind so brutal.

 

Im Winter 2020/21 gibt es hierzulande einen traurigen Höchststand von an/mit Corona Verstorbenen, ungefähr genauso viele wie durchschnittlich täglich an Krebs und Herzerkrankungen sterben.

 

Die Anzahl der Kranken und Sterbenden ist viel höher als im Frühjahr, trotzdem ist der Angst- und Schreckensmodus in gewisser Weise aufgebraucht. Dabei wird es nun wirklich eng auf den Intensivstationen.

 

Wer ständig „Feuer, Feuer“ schreit, dem wird schwerer geglaubt wenn es wirklich brennt.

 

Zahlen entpersonalisieren den Tod. Für mich ist es das Traurigste an dieser Pandemie und dem Umgang der Gesellschaft und Medien mit dem Tod. Es scheint mir ein Ausdruck davon, wie sehr der Tod, obwohl jetzt gegenwärtiger denn je, nach wie vor als Teil des Lebens verdrängt wird.

 

Warum wird es in den Medien abgefeiert wenn eine 101jährige geimpft wird? Weil es ein vermeintlicher Sieg der Menschen über den Tod ist?

 

Es gibt ein Leben vor dem Tod. Der Tod ist langfristig gesehen unvermeidbar für uns alle. Was wir verhindern könnten ist ein weiteres Aussterben vieler Tier- und Pflanzenarten und den frühzeitigen Tod sehr, sehr vieler Menschen, aber dafür müssten wir uns erstmal der Tatsache des Todes stellen.

Stattdessen wird das Leben isoliert, deaktiviert, desinfiziert und digitalisiert. Das macht die Wider-Anbindung an die Natur, die Verbindung mit anderen Menschen und mit unserer inneren menschlichen Natur nicht leichter.

 

Um das Leben zu erhalten müssen wir jetzt radikal umsteuern. Durch Corona können wir lernen die Zerbrechlichkeit des Lebens und Tatsache des Todes anzuerkennen.